… wie wir träumen …
Zu den Gemälden von Matthias Lautner
Viele zeitgenössische Maler arbeiten heute an der Schnittstelle von Abstraktion und Darstellung. Es ist fast so, als ob die Potenzialität dieses Übergangs wichtiger ist als die Identifikation mit einer bestimmten Position. Die beiden Ausdrucksmittel werden nicht mehr als unvereinbare Gegensätze in einem ideologisch bedingten Antagonismus betrachtet, sondern gelten nun selbstverständlich als gleichberechtigt nebeneinander existierend. Zeitgenössische Maler scheinen nicht mehr von Konzepten des Entweder-Oder fasziniert zu sein; Vielmehr interessieren sie sich für das freie Spiel der Formen, das Nebeneinander und Verschränken gegensätzlicher malerischer Realitäten, die Integration digitaler Bildmedien und die Einbettung ihrer Werke in unterschiedliche kulturelle Kontexte. Malerei wird damit als eigenständige Realität verstanden, die sich nicht auf die Darstellung oder Abstraktion der realen Welt beschränkt, sondern deren Anstoß vielmehr in „potentiellen Bildern“ liegt, wie sie Dario Gamboni nennt.
Matthias Lautner lotet diese „potentiellen Bilder“ im Spannungsfeld zwischen Abstraktion und Figuration aus, indem er ihre divergierenden Ausdrucksmittel konfrontiert und verschränkt und einzelne Elemente auf der Grundlage der Wahrnehmung präzise komponiert, gepaart mit einer subtilen Bildnarrative. Seine Malerei der letzten Jahre war geprägt von ausdrucksstarken und abstrakten Szenen, in denen er realistisch Figuren malte, die nachdenkliche und introspektive Gesten ausdrücken. Seine neuesten Bilder hingegen versuchen mit dieser klaren Gegenüberstellung zu brechen, indem sie die Figuren ausgewogener in das Bildgeschehen integrieren und die abstrakte Umgebung mehr und mehr einem Raum oder einer Landschaft ähneln lassen um zu testen, wie nahe er einer Landschaftsmalerei kommen kann, ohne wirklich konkret zu werden.
Indem Lautner gemalte Landschaften oder das, was wir als solche assoziieren, mit von hinten betrachteten Figuren kombiniert, beschwört Lautner auch eine malerische Tradition, die in Caspar David Friedrich ihren reinsten Ausdruck fand. In der Romantik hat sich die Natur vom Hintergrund zu einer eigenständigen Ausdrucksmöglichkeit entwickelt – also zu einer Welt der Phänomene, durch und hinter der Unendlichkeit und Unfassbares suggeriert, aber nicht klar definiert wird. Weil es nicht darum ging, visuelle Phänomene im Detail zu erfassen, sondern Eindrücke zu vermitteln, war Landschaft in der Romantik immer ein Weg der Erkenntnis über das Selbst und nie der Gegenstand der Erkenntnis an sich.
Bereits Alexander Cozens (1717–1786) läutete das Ende der traditionellen Landschaftsmalerei ein. Seine „Blot“-Methoden trennten die Landschaftsmalerei von ihrem Realitätsbezug. Er definierte einen „Fleck“ als eine Ansammlung dunkler Formen und Massen, die mehr oder weniger zufällig entstanden, wenn Tinte auf ein Blatt Papier aufgetragen wurde. Diese Formen können abstrakt sein oder eine Landschaft darstellen. Cozens interessierte sich nicht für die Natur als präexistente Objektwelt (natura naturata), sondern als ständigen kreativen Prozess (natura naturans). Mit einer groben Idee im Hinterkopf brachte er zunächst Kleckse auf Papier auf, die sich dann langsam im Auge des Künstlers zu einem auf Erinnerung basierenden Landschaftsbild kristallisierten. Nach Cozens war die reale und bestehende Landschaft nicht mehr Gegenstand der Malerei und wurde stattdessen in eine Metapher verwandelt, durch die Künstler versuchten, jene schwer fassbaren Erfahrungsqualitäten darzustellen, die sich einer konkreten Form oder einem konkreten Konzept entziehen: „Landschaftsbilder sind zu einer Leinwand für vielfältige Projektionen geworden“ .“
Matthias Lautner hat in seinen Bildern abstrakte Szenen aus ungegenständlichen Formen entwickelt. Neuerdings generiert er diese auch aus einem konkreten Bild oder einer realen Atmosphäre, die er dann in eine autonome Struktur umwandelt, hinter der ein verblasstes Bild, eine Erinnerung an einen Raum oder eine Landschaft, verweilt. In diesen Szenen geht es also um Chiffren (die Zeichen in Karl Jaspers Existenzialismus), die ein subjektives Verständnis von Raum und Landschaft ausdrücken und nicht mehr die illusionistischen Bilder sind, als die wir sie uns vorstellen. Die Darstellung von Natur – also Raum – wird so durch die Vorstellung von Natur und Raum ersetzt.
Die Figuren, die Lautner in diesen Farbräumen immer präziser positioniert – siehe die Bilder Brieflesendes Mädchen 5 oder Die Bedrohung – sind seinem digitalen Bildarchiv, seinem Bildgedächtnis in binärer Form, entlehnt. Dass es sich um Porträts von Freunden oder Bekannten, Schnappschüsse von der Straße oder Bilder aus dem World Wide Web handeln kann, ist für den Bildinhalt irrelevant. Ihn interessiert vor allem eine bestimmte Haltung, eine Geste oder ein Körperausdruck, der die bereits der abstrakten Struktur innewohnende Stimmung einfängt und aufbaut. Indem er die Figuren aus ihrem eigenen zeitlichen und gesellschaftspolitischen Kontext herausnimmt, transportiert er sie in das, was man vielleicht vorsichtig als „Zeitlosigkeit“ bezeichnen kann. Obwohl er die Figuren aus ihrem eigenen zeitlichen Kontext herausgelöst hat, kann ihre Einsamkeit in seinen Bildern dennoch als Symptom unserer Zeit interpretiert werden.
Jeder Künstler entwickelt seine persönlichen Chiffren, mit denen er sich der Welt nähert: Chiffren, die seine subjektiven Emotionen und Überzeugungen widerspiegeln. Karl Jaspers betrachtete diese nicht als verschlüsselte Symbole, sondern als Denkerlebnisse, die materiell nicht Erfassbares vermitteln. Darauf aufbauend könnte man sagen, dass Lautners Gedankenerlebnisse in seine Bilder einfließen – und weil Chiffren immer einen gesellschaftlichen Code der Kommunikation widerspiegeln, können Betrachter diese Reflexionen und Analysen nicht zuletzt als Anspielungen begreifen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Malerei von Matthias Lautner von gegensätzlichen, aber auch sich gegenseitig bedingenden Bildthemen bestimmt wird. Sie entziehen sich dem Charakter subjektiver Symbole und verweigern eine objektive ikonographische Bedeutung. Ihre narrativen Verbindungen sind subtil und erscheinen verschlüsselt. Als Chiffren erwecken sie den Eindruck von etwas, das nicht definiert werden kann, was nicht da ist, etwas fehlt. Ihre Grundstimmung ist melancholisch und erinnert an die existenzielle Einsamkeit, die Joseph Conrad einst beschrieben hat:
„Wir leben, wie wir träumen – allein …“
(Römer Grabner 2013)
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Matthias LautnerThomas Gänszler I Matthias Lautner
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